In meinem Hotel wirkt alles ein bisschen chaotisch. Das Zimmer ist wirklich hübsch eingerichtet, hat ein bequemes Bett und ist sauber.
Der Eingangsbereich, die Bar, der Frühstücksraum, die Flure wirken jedoch alle oll und abgenutzt. Nichts passt so recht zusammen: dunkle Holzbalken zwischen ockerfarbenen Wänden, kitschige Paris-Deko zu wildgemusterten, typisch britischen Teppichen, auf den Tischen Plastiktischdecken mit Spitzenaufdruck und in der Ecke die vergessene Weihnachtsbeleuchtung neben irgendwelcher maritimen Deko. Das Essen ist so la la. Die Gemüselasagne, die ich hier vorgestern aß, war weitgehend geschmacksneutral, und die halb verwelkten Salatblätter hätte ich nun wirklich niemandem mehr serviert. In Gedanken sehe ich Gordon Ramsay vor mir, der in der Küche irgendeinen armen, überforderten Koch zusammenbrüllt.

„Überfordert“ ist irgendwie das Wort, das mir hier immer wieder in den Kopf schießt. In der Bar rennen alle völlig chaotisch durcheinander, keiner scheint so richtig für einen Bereich zuständig zu sein. Derselbe Eindruck morgens beim Frühstück. Ich werde gefragt, ob ich Kaffee oder Tee möchte. Dann wird mir der Kaffee gebracht. Ach ja – ob ich Milch zu meinem Kaffee möchte? Ja, gerne. Bei Toast, Müsli und Obst herrscht Selbstbedienung. Sie haben aber vergessen, überhaupt Toast hinzustellen. Dann fällt der jungen Kellnerin ein, dass sie vergessen hat zu fragen, ob ich cooked breakfast möchte. Der Mann, der schon an der Rezeption und auch in der Küche am Herd stand, kommt dreimal an den Tisch, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.
Jedem Tisch ist eine Zimmernummer zugeordnet. Das funktioniert
so lange prima, bis ein paar Gäste kommen, deren Zimmernummer die Tochter bei
der Planung am Vortag vergessen hat. Die ganze Tischordnung ist hinüber und
alle laufen hektisch durcheinander, und versuchen, irgendwie alle Gäste
unterzubringen. Das ist alles nicht schlimm – alle sind lieb, freundlich und
aufmerksam, aber sie wirken wie gesagt ein bisschen überfordert.
Freundlich wirkte auch die Dame, bei der ich eingecheckt hatte, aber darüber
hinaus fiel auch kein Wort mehr als nötig. Hm, schade, dachte ich, ein bisschen
kurz angebunden, die Dame.
An meinem zweiten Tag hier habe ich nicht so recht Schwung, etwas zu unternehmen. Draußen ist es bewölkt, aber die Wettervorhersage kündigt für den späteren Nachmittag Sonne an. Also beschließe ich, die Aktivitäten auf dann zu verschieben und bis dahin ein bisschen Pause zu machen. Ich verbringe den Großteil des Tages in meinem Zimmer, lese, sortiere Fotos, schreibe ein bisschen und schlafe. Das tut auch mal gut. Als ich am Nachmittag nach unten gehe, komme ich doch noch mit der Gastwirtin ins Gespräch.
Sie erzählt mir von ihren Enkeln, die gerade mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Deutschland sind, wo sie den Vater ihrer Schwiegertochter besuchen. Zu dem hatte diese seit 20 über Jahren keinen Kontakt, weil ihr Vater hier als Soldat stationiert war, ein Kind gezeugt hat und dann einfach zurück nach Deutschland ging. Sie erzählt mir eine Geschichte, die eine Folge von Julia Leischick hätte sein können. Manchmal wundert es mich ja, was mir wildfremde Leute immer gleich alles erzählen.
Auf meine Tagesplanung angesprochen sage ich, ich hätte eine kleine Pause gebraucht, woraufhin sie erwidert, dass sie die auch mal bräuchte. Sie berichtet, dass sie gesundheitlich sehr angeschlagen sei und dringend eine OP bräuchte, auf die sie aber seit sage und schreibe 18 Monaten wartet. Gestern sei es ihr gar nicht gut gegangen. Man hätte ihr nun einen Termin im August in Aussicht gestellt, und bis dahin müsse es eben noch irgendwie gehen. „Big thanks to the NHS“, meint sie verbittert und ironisch. Es sei schrecklich, sich all die Zeit immer nur auf andere verlassen zu müssen, aber alle, die mithelfen, seien großartig und würden auf sie aufpassen, sie unterstützen und einspringen, wo immer es geht. Die Zimmer seien schon alle renoviert, aber dann seien sie nicht weitergekommen – auch, weil das Geld fehlt. Aber im Oktober sind weitere Renovierungen geplant.
Und so fügt sich einiges zusammen. Das ist hier ein kleiner Familienbetrieb, bei dem alle irgendwie aushelfen. Und kurz angebunden war die Gastwirtin am Vortag, weil es ihr sehr schlecht ging. Trotzdem saß sie da und hat mich freundlich empfangen. Der NHS, das britische Gesundheitssystem, ist seit langem völlig am Boden, und alles deutet darauf hin, dass der Brexit die Lage noch weiter verschlimmern wird, weil zahlreiche – dringend benötigte – ausländische Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte das Land verlassen (müssen).
Ich frage mich, ob auch meine Gastgeberin für den Brexit gestimmt hat, traue mich aber nicht, dieses Thema zu eröffnen. Ich habe mich immer gewundert, wie es sein kann, dass so viele Menschen für den Brexit sind. Aber es gibt hier viele, viele Menschen, die ob des desaströsen Gesundheitssystems verzweifelt sind. Und dann sind da diese Widerlinge wie Boris Johnson und Co., die den Leuten hier das Blaue vom Himmel herunterlügen und behaupten, ohne EU gingen in Zukunft jede Woche 350 Millionen Pfund an den NHS. Wundert es einen da noch?
Nachdenklich steige ich ins Auto. Das Gespräch ist auch eine Erinnerung an mich selbst, weniger schnell zu urteilen. Keiner weiß, wer gerade was durch macht. Wie zum Beispiel eine kurz angebundene Dame am Empfang. Ich fahre los und schalte das Radio ein. BBC berichtet: Boris Johnson wird zum Prime Minister ernannt.
Für heute habe ich mir einen Abschnitt des Wales Coast Path ausgesucht, auf dem ich ein kleines Stück laufen möchte, weil die Küste dort besonders imposant sein soll. Kurz vor dem anvisierten Parkplatz ist jedoch die Straße mit einem Hinweis auf eine Militärübung gesperrt. Ich ärgere mich und halte an, um zu überlegen, wo ich nun stattdessen hinfahre, als ich plötzlich Maschinengewehrsalven, einzelne Schüsse und Geräusche höre, die wie Raketen klingen. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich reflexartig anfange zu heulen. Huch!

Alles Militärische bereitet mir seit jeher großes Unbehagen. Ich kann das in Filmen schon nicht gut ertragen. Aber dass es bei mir spontan so heftige Angstgefühle auslöst, wenn ich solche Geräusche zum ersten Mal live höre, überrascht auch mich. Diese Geräusche stehen für mich für Krieg und Gewalt, und sofort entstehen in meinem Kopf entsprechende Bilder. Vor allem aber auch Gedanken daran, dass das für zahlreiche Menschen auf dieser Welt zur bitteren Realität gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muss, und bin unendlich dankbar, dass ich noch nie Krieg erleben musste. Übung hin oder her – das fühlt sich schrecklich an und ich will einfach nur weg.
Kurzerhand gebe ich den nächstbesten Küstenort ins Navi ein und fahre nach Freshwater East. Der Weg führt wieder über zahlreiche Man-sieht-nix-Straßen, aber dafür werde ich am Ende mit einem wunderschönen Strand belohnt. Als ich am Parkplatz ein Ticket ziehen möchte, spricht mich ein Mann an. „Oh, you don’t need a ticket at this time of the day, darling! Just press the green button, that‘ll give you a free ticket for the next 30 minutes and after 5 p.m. parking is free and everybody is happy.“ Ich bekomme noch ein paar Tipps, wo es zum Strand geht, links herum sei eine Bar für einen Drink danach, und oben auf dem Hügel sei ein gutes Restaurant. Wie nett! 🙂
Für die nächsten drei Stunden lege ich mich einfach mit einem Buch an den Strand und genieße mal wieder diese tolle Landschaft. Ein paar Menschen grillen, eine Gruppe macht Yoga am Strand, ein Kind buddelt sich im Sand ein. Mir fallen die Augen zu.
Dank deiner ausführlichen Beschreibung reise ich grade wieder ein Stückchen auf der Google Map mit – und entdeckte dabei, dass man virtuell auf dem Pembrokeshire Coast Path gehen kann! Für sowas liebe ich ja dieses Internetdingens ;-))
Ja, dafür ist das großartig! So hab ich mir vorher auch vieles rausgesucht. Schön, dass du mitreist. 🙂