Frau Dattelpflaum reist

... und schreibt
2015 - Normandie und Kanalinseln

Sark – Kaminfeuergeschichten

29. Juli 2015

Jackie und Georgina sind heute abgereist und ich bin bestimmt nicht traurig deswegen. Ich glaube, ich habe noch nie zwei ältere Damen mit so schlechten Manieren gesehen. Wahnsinn, wie laut die waren. Morgens ging in aller Frühe der Wecker in Jackies Koffer los, der im Flur stand. Als Sue sie darauf ansprach, erwiderte sie lediglich: „Oh, don’t worry, it’ll stop by itself within an hour… that’s not a bomb and I’m not a terrorist“, gefolgt von einem diabolischen „HAHAHAHAHA“. Natürlich, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, den Lärm auszuschalten. Meine nicht gerade subtile Frage, ob das denn nun heißt, dass jetzt auch alle anderen Gäste aufstehen müssen, wurde dezent ignoriert.

Beim Frühstück ging es dann weiter mit Nase hochziehen, lautem Aufstoßen, während des Rauchens vor der Tür wurde der Kopf in den Frühstückswintergarten gehalten, um irgendwas rumzuquaken und den ganzen Rauch reinzupusten… während Georgina völlig aufgeregt mit dem Hintern gen Himmel über die Bänke krabbelte und rief: „Ooooh.. there is a butterfly! I found a butterfly! Come on little butterfly! Look, a butterfly!“ Die beiden waren echt nicht ganz frisch. Zum Glück sind die nun weg.

Aber der Abend hatte gestern noch einen sehr schönen Abschluss. Während alle anderen Gäste sich in ihren Zimmern vor dem Fernseher verkrochen haben, habe ich mich noch lange mit George unterhalten, der mich gefragt hatte, ob er mir im Wohnzimmer den Kamin anmachen soll. Das habe ich dankend angenommen und George hat mir dann noch Gesellschaft geleistet. Man stellt sich seinen Sommerurlaub ja nicht unbedingt mit einem alten Seebären am Kamin vor, der aus seinem Leben erzählt, während draußen der Sturm tobt und die See braust.
Trotzdem hätte der Abend kaum schöner sein können. George hat viel über die Insel erzählt. Wie die Barclay-Brüder (die Eigentümer des Daily Telegraph) die halbe Insel aufkaufen, massiv in die Landschaft eingreifen (etwa durch großflächigen Weinanbau, um exklusiven Wein verkaufen zu können, obwohl dort eigentlich gar kein Wein wächst), wie sie Hotels aufkaufen, um diese dann zu schließen, damit sie ihre eigenen Luxus-Hotels lukrativer bewirtschaften können. Und wie sie der einheimischen Bevölkerung auf zahlreiche andere Weisen das Leben schwer machen. Da spielen sich wirklich üble Dramen ab.

Das Leben auf der Insel ist schön, aber hart. Abgesehen vom Tourismus in der Sommersaison gibt es hier nicht viel Arbeit. George ist fast 80 und wuchtet immer noch täglich sein Ausflugsboot ins Wasser und wieder zurück, um den Touristen die Papageientaucher und die Insel von der Seeseite aus zu zeigen. Schon seit Tagen kann er nicht mit dem Boot raus, weil es so stürmt und der Wellengang dafür einfach zu heftig ist. Das lässt ihn von Tag zu Tag unruhiger werden, da ihm so die wichtigen Einnahmen fehlen. Auch ich ärgere mich schon seit meiner Ankunft sehr darüber, dass ich an keinem seiner Ausflüge teilnehmen kann, aber für mich ist das natürlich nicht so essentiell.
Hier wird gearbeitet, bis man umfällt. Vieles muss erst vom relativ weit entfernten Festland herangeschafft werden, und wenn z. B. der Backofen kaputt geht (so wie heute), und man das Pech hat, dass man ihn nicht selbst reparieren kann, dann ist eben auch nicht gleich ein Fachmann oder ein Ersatzgerät in Sicht. Und gerade im Alter wird das Leben hier sehr beschwerlich. Wenn dann zwei Milliardäre kommen und den Menschen im Alter viel Geld für ihr Land bieten, ist es vielleicht verständlich, dass so mancher dieses Angebot annimmt. Mit der Folge, dass nach und nach immer mehr Bereiche der Insel in die Hände der Barclays fallen, die die Bevölkerung mobben und die Insel nach ihren Wünschen umgestalten. Man kann der Insel nur wünschen, dass sie sich ihre Identität erhalten kann.

Bei Sue und George

Neben der Inselpolitik erfahre ich vieles über die Zeit während des zweiten Weltkrieges, in der die Kanalinseln von den Deutschen besetzt waren. Hitler hatte sich in den Kopf gesetzt, die Kanalinseln als ersten Außenposten Großbritanniens zu erobern – und zu halten – und hat die Inseln besetzt. Großbritannien hat wiederum recht schnell eingesehen, dass die Kanalinseln aufgrund ihrer Geografie nur schwer zu verteidigen bzw. zurückzuerobern sind. Und vielleicht waren die kleinen Inseln für den Rest Großbritanniens auch einfach nicht so wichtig – jedenfalls hat man sie schnell aufgegeben und sich selbst überlassen.

Für die Bevölkerung hieß das nicht nur Tyrannei durch die deutschen Besatzer, sondern auch jahrelanger, furchtbarer Hunger. Die Kanalinseln waren über Jahre komplett von der Versorgung abgeschnitten, die Selbstversorgung gestaltete sich als äußerst schwierig. George hat erzählt, wie er diese Zeit als kleiner Junge erlebt hat.
Wie seine Familie fast deportiert worden wäre, weil er mal ein Seil über den Weg gespannt hat, um einen deutschen Soldaten straucheln zu lassen. Wie ein anderer Soldat ihn fast erschossen hätte, weil er ihn Bastard genannt hat. Wie die Leichen von versenkten Schiffen an der Insel angespült wurden. Wie die Inselbewohner gehungert haben. Wie sie jahrelang nicht an die Strände konnten. Wie es war, als am D-Day bei der Landung der Alliierten in der Normandie all die Schiffe an den Inseln vorbeigefahren und all die Flugzeuge über sie hinweg geflogen sind. Er erzählt von evil nazi bastards und von jungen deutschen Burschen, die selbst nicht wussten, wo sie da hinein geraten waren und einfach nur froh waren, nicht in Russland an der Front, sondern auf den vergleichsweise ruhigen Inseln stationiert gewesen zu sein.

Das waren bewegende, interessante und persönliche Geschichten und ich bin beeindruckt von diesem tollen und reflektierten Mann, der so viel zu erzählen hat. Kaum zu glauben, dass er auf die 80 zugeht. Ich bin nachdenklich und dankbar für diesen Abend.

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